Nachruf Dr. Charlotte Natmeßnig (1954-2025)
In tief empfundener Anteilnahme mit der Familie müssen wir bekanntgeben, dass unsere geschätzte Vorstandskollegin Frau Dr. Charlotte Natmeßnig am 19. Februar 2025 ganz unerwartet verstorben ist. Sie war seit vielen Jahren mit der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte eng verbunden.
Charlotte Natmeßnig wurde 1954 in Wien geboren. Während ihrer Gymnasialzeit verbrachte sie Anfang der 1970er Jahre ein Jahr an der High School von East Peoria, Illinois, in den USA und absolvierte nach der Matura an der Universität Wien das Studium der Geschichte und Anglistik. Von 1981 bis 1997 arbeitete sie im Österreichischen Staatsarchiv an der Edition der Ministerratsprotokolle der Ersten Republik mit. Gleichzeitig war sie 1990/91 an einem Projekt zur Bankengeschichte an der London School of Economics beteiligt.
Ab 1993 wirkte Charlotte Natmeßnig am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der WU Wien als Forschungsassistentin in Zusammenarbeit mit den ProfessorInnen Alice Teichova, Herbert Matis und Dieter Stiefel. Im Jahr 1995 wurde sie als Universitätsassistentin übernommen. Nach Ihrer formalen Pensionierung im Jahr 2019 war Sie noch bis 2021 als Senior Expert für Unternehmensgeschichte am Institut tätig und unterstützte dieses auch danach weiterhin in der Lehre. Im Sommersemester 2025 war noch eine Lehrveranstaltung geplant. Zwischen 1995 und 2025 hielt sie zahlreiche Proseminare, Wirtschaftsgeschichte- und Überblickslehrveranstaltungen, Veranstaltungen zum Studienplanpunkt „Zukunftsfähiges Wirtschaften II“ und Kurse über Sozioökonomische Entwicklungstheorien im Bachelor-Schwerpunkt Sozioökonomie.
Zu den Forschungsthemen von Charlotte Natmeßnig gehörten die österreichische Bankengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, sowie die Wirtschaftsgeschichte Zentraleuropas im 20. Jahrhundert. Im Bereich der Unternehmensgeschichte lagen die Schwerpunkte auf Industriegeschichte, Familienunternehmen und Biografien von Unternehmerinnen und Unternehmern. Des Weiteren befasste sie sich auch mit wirtschaftsethischen Themen.
In ihrer Dissertation, die bei Böhlau unter dem Titel „Britische Finanzinteressen in Österreich. Die Anglo-Oesterreichische Bank“ erschien, analysierte Charlotte Natmeßnig auf der Grundlage umfassender Quellenstudien im Österreichischen Staatsarchiv und im Archiv der Bank of England am Beispiel des untersuchten Instituts den Einfluss britischer Finanzinteressen in Österreich im Zeitraum von ca. 1860 bis 1930 sowie exemplarische Entwicklungen im Bereich der großen österreichischen Universalbanken. Diese von Prof. Alois Mosser betreute Arbeit wurde mit dem Kardinal Innitzer Förderungspreis ausgezeichnet. In zahlreichen Artikeln und wissenschaftlichen Vorträgen in englischer und deutscher Sprache ging sie auf weitere Aspekte der österreichischen Bankengeschichte ein. Beispielhaft erwähnt seien die Artikel „Banking Historiography and Research in Austria: Trends, Perspectives and Influental Factors“ (2009, gemeins. mit Peter Eigner), „Wege zur Währungssanierung und Beginn der Bankenkonzentration auf dem Wiener Platz“ (2005), „Die österreichischen Provinzbanken in den Zwanzigerjahren“ (2000, gemeinsam mit Fritz Weber) oder und „The Establishment of the Anglo-Czechoslovak Bank: Conflicting Interests“ (1994).
Dem Bereich der Wirtschaftsgeschichte Mittel- und Osteuropas widmete sie sich u.a. in einem Forschungsprojekt, das von Prof. Alice Teichova in den 1990er Jahren geleitet wurde. Zur Jahrtausendwende gab Charlotte Natmeßnig gemeinsam mit Helga Embacher und Hanns Haas den Band „Vom Zerfall der Großmächte zur Europäischen Union. Integrationsmodell im 20. Jahrhundert“ (2000) heraus.
Von den Forschungsarbeiten zur Metall- und Maschinenindustrie sei die Monografie „Menschen mit Ideen. Die niederösterreichische Maschinen & Metallwaren Industrie“ (2014, gemeins. mit Andreas Resch) hervorgehoben, die mit dem Wissenschaftspreis des Landes Niederösterreich (Anerkennungspreis) ausgezeichnet wurde. Ebenfalls 2014 publizierte sie den Sammelband „Familienunternehmen. Ökonomie, Geschichte, Werte“ (gemeinsam mit Veit Schmid-Schmidsfelden). Zahlreiche Biografien von Unternehmern und Unternehmerinnen erschienen in der Neuen Deutschen Biographie (z.B. über Theodor Ritter v. Taussig, Alexander Spitzmüller, die Familie Schmid von Schmidsfelden, Fritz Redlich, Anna Sacher). Auf weibliche Akteurinnen richtete sie den Fokus auch im Buchbeitrag „An den Frauen haben wir einiges gutzumachen … Angelika Kaufmann, Bertha von Suttner und Rosa Mayreder – die Frauen auf den österreichischen Banknoten“ in der Festschrift für Herbert Matis aus dem Jahr 2001. Dem Interesse an der Rolle der Frauen in der Wirtschaft gemäß fungierte Charlotte Natmeßnig auch als Obfrau der ARGE Wirtschaftsfrauen.
Themen der Wirtschaftsethik widmete sie sich in zahlreichen Konferenzbeiträgen, aus denen zum Teil auch Publikationen hervorgingen, wie etwa: „Freiheit ohne Grenzen – grenzenlose Freiheit. Die 3. Carinthischen Dialoge auf Schloss Bach 2009. Eine Nachlese“ (2009, gemeinsam mit C. Franz und J. Franz) oder Ch. Natmeßnig et al. (Hrsg.), „Humane Existenz. Reflexionen zur Ethik in einer pluralistischen Gesellschaft“ (2007).
Im Zuge ihrer vielfältigen Aktivitäten gehörte Charlotte Natmeßnig neben dem Vorstand der ÖGU auch dem wissenschaftlichen Beirat des Onlineportals für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte ZEDHIA an. Ebenfalls war sie der Deutschen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG) sowie der European Business History Association (EBHA) eng verbunden. Dank dieser Kontakte wirkte sie erfolgreich an der Veranstaltung von zahlreichen internationalen Konferenzen mit. Insbesondere sei die EBHA-Konferenz an der WU im Jahr 2017 hervorgehoben, die sie gemeinsam mit Peter Berger organisierte.
Neben ihren beruflichen Interessen war Charlotte Natmeßnig ihrer weit verzweigten Familie sehr eng verbunden und nahm lebhaften Anteil an den erfolgreichen Lebenswegen ihrer Nichten und Neffen.
Die ÖGU verliert mit Charlotte Natmeßnig eine jahrelange Stütze, vor allem aber eine liebe Kollegin. Wir werden ihr ein würdiges Andenken bewahren.